11. Mai 2021
Radio Free Asia, www.rfa.org

Schwester der uigurischen Aktivistin Rebiya Kadeer nach Freilassung aus der Haft verstorben

Arzugul Kadeer ist eine von 38 Angehörigen der Aktivistin, die von den Behörden inhaftiert wurden.

Arzugul Kadeer, die jüngere Schwester der altgedienten uigurischen Rechtsverteidigerin Rebiya Kadeer, ist nach offiziellen Angaben in der nordwestchinesischen Uigurischen Autonomen Region Xinjiang (XUAR) eine Woche nach ihrer Entlassung aus einem Internierungslager gestorben.

Rebiya Kadeer hat kürzlich erzählt, wie ihre Verwandten in Xinjiang aufgrund ihrer eigenen Lobbyarbeit im Ausland Ziel von Inhaftierung werden. Im März  hatten die chinesischen Behörden ihre Enkelin Aydidar Kahar und ihren jüngeren Bruder Mamatjan Kadeer gezwungen, bei einer Pressekonferenz über den  Bildschirm zu erklären, daß alle Mitglieder der Familie „frei und glücklich“ lebten.

Arzugul Kadeer

Die Pressekonferenz war der jüngste Versuch Pekings, die Berichterstattung über die Situation in der XUAR, wo die Behörden vermutlich bis zu 1,8 Millionen Uiguren und andere muslimische Minderheiten in einer Welle außergesetzlicher Masseninhaftierungen seit Anfang 2017 festhalten, zu kontrollieren.

Im Zuge der genaueren Beobachtung der chinesischen Politik in der XUAR bezeichnete die US-Regierung im Januar die Mißhandlungen in der Region als Teil eines Völkermords - ein Etikett, das der chinesischen Politik auch von den Parlamenten Kanadas, der Niederlande und Großbritanniens angehängt wurde.

Rebiya Kadeer, 74, eine prominente Geschäftsfrau aus der nordwestchinesischen Region Xinjiang, wurde im März 2005 aus einem chinesischen Gefängnis auf Bewährung entlassen, nachdem sie sechs Jahre lang inhaftiert war, weil sie politisch heikle Zeitungsausschnitte ins Ausland geschickt hatte. Sie ging in die USA ins Exil. Sie war elf Jahre lang Vorsitzende des Uigurischen Weltkongresses (WUC) im Exil und leitet die Internationale Uigurische Stiftung für Menschenrechte und Demokratie.

Nach Angaben von Rebiya Kadeer sind insgesamt 38 ihrer Familienmitglieder in irgendeiner Form in der Region in Haft gewesen. Unter den Inhaftierten seien auch ihre Schwestern Arzugul Kadeer und Halcham Kadeer, sowie fünf weitere, die erst freigelassen wurden, nachdem ihr Gesundheitszustand kritisch geworden war - darunter ihr Bruder Memet Kadeer und ihr Sohn Ablikim Abdurehim.

Rebiya Kadeer erwähnte, daß ihr Kontakt zu Arzugul seit Mitte 2014 abgebrochen war. Ende 2017 erhielt sie dann die Nachricht, daß ihre Schwester in einem Lager gestorben war. Rebiya fuhr fort, daß sie und Arzugul trotz der Drohungen der Polizei im Jahr 2014 weiter miteinander telefoniert hätten, woraufhin die Polizei Arzugul wiederholt zum Verhör vorlud und sogar eine Razzia in ihrem Haus durchführte.

Der uigurische Dienst von RFA rief 2017 mehrmals bei den Behörden in Arzugul Kadeers Heimatbezirk Kuchar (Kuche) in der Präfektur Aksu (Akesu) der XUAR an, um die Behauptung bestätigt zu bekommen, hatte jedoch keinen Erfolg, da das Personal sich weigerte, irgendwelche Informationen über den Fall zu geben.

Eine Quelle, die behauptet, mit der Situation in Kuchar vertraut zu sein, die aber aus Angst vor Repressalien anonym bleiben wollte, gab jedoch gegenüber RFA an, daß Arzugul Kadeer, die früher im Büro für Lebensmittel und Getränke des Bezirks Kuchar gearbeitet hatte und sich nun im Ruhestand befand, nach den tödlichen Unruhen in der Hauptstadt der XUAR, Urumqi, einen Monat lang von der Polizei festgehalten wurde.

Bei dem dreitägigen Blutvergießen, das am 5. Juli 2009 zwischen der ethnischen Minderheit der Uiguren und Han-Chinesen in Urumqi ausbrach, starben nach offiziellen Angaben Chinas etwa 200 Menschen und 1.700 wurden verletzt, während uigurischen Rechtsgruppen zufolge die Zahlen viel höher sind.

Damals bezichtigten die Behörden Rebiya Kadeer, die Unruhen vom Ausland aus angezettelt zu haben. Es bleibt unklar, unter welchen Umständen Arzugul Kadeer inhaftiert wurde und unter welchen Bedingungen sie freigelassen wurde.

Spätere Inhaftierungen

Der Quelle zufolge wurde Arzugul Kadeer im Juni 2014 zum zweiten Mal inhaftiert. Damals behauptete China, es gäbe eine „Welle“ von „religiösem Extremismus“ in der XUAR, und begann hart gegen die uigurische Gesellschaft durchzugreifen, was als „New Strike Hard Campaign“ mit groß angelegten Verhaftungen und hochkarätigen Prozessen bekannt ist.

Berichten zufolge wurde Arzugul Kadeer Mitte 2015 freigelassen, nachdem sie auf ihre zweite Verhaftung hin eine einjährige Haftstrafe verbüßt hatte. Die Anklagepunkte, die sie ins Gefängnis brachten, sowie die Bedingungen ihrer Freilassung sind zu diesem Zeitpunkt ebenfalls unbekannt.

Die Quelle von RFA sagte, Arzugul Kadeer sei von Vertretern des Nachbarschaftskomitees in Saqsaq in Abstimmung mit der Polizeistation der Gemeinde Dongmehelle in Kuchar festgenommen worden, jedoch konnten die zuständigen Beamten in Saqsaq diese Information nicht bestätigen.

Eine Vertreterin der Bezirkspolizeistation von Kuchar gab an, daß sie einmal eine Meldung erhalten habe, wonach Arzugul Kadeer vermißt werde, und bat um Informationen über ihren Verbleib, lehnte dann aber einen weiteren Kommentar ab.

Laut RFAs Quelle wurde Arzugul 2017 im Alter von 69 Jahren ein drittes und letztes Mal festgenommen. Die Quelle sagte, daß sie die Verhöre und die Folter, die sie während der Haft erlitt, nicht aushielt und daß sich ihre Gesundheit rasch verschlechterte, so daß sie ihre körperliche Kraft verlor und sich nicht mehr bewegen konnte.

Die Quelle behauptete auch, daß die Polizei sie in ihrem schwachen Zustand dem Nachbarschaftskomitee von Saqsaq übergeben habe, weil sie sich nicht an bestimmte Anordnungen innerhalb des Lagers gehalten habe. Mitarbeiter des Komitees brachten sie in das Kreiskrankenhaus von Kuchar, und eine Woche später übergaben die Behörden ihren Körper an ihre Kinder.

Eine Polizeibeamtin in der Stadt Kuchar bestätigte, daß Arzugul vor drei oder vier Jahren im Krankenhaus gestorben sei. Sie behauptete, daß der Staat sich aufgrund ihres hohen Alters um sie „gekümmert“ habe und daß sie den „Ausbildungskurs“ - ein Euphemismus für das Lager - trotz ihrer vielen „Fehler“ früh verlassen habe, merkte aber auch an, daß die Behandlung, die sie im Krankenhaus erhielt, aufgrund ihrer schweren gesundheitlichen Probleme letztlich wirkungslos war.

„Sie ist im Krankenhaus gestorben“, sagte die Beamtin. „Offensichtlich war sie krank“, fügte sie hinzu und bemerkte, daß Arzugul etwa „eine Woche“" nach Verlassen des Lagers gestorben sei. Über die Todesursache konnte sie keine Angaben machen.

Familienmitglieder im Visier

Abdurashid Niyaz, ein unabhängiger Forscher in der Türkei, äußerte gegenüber RFA, daß das Vorgehen gegen Dissidenten und ihre Familienangehörigen „ein besonders grausamer und unmenschlicher Akt“ sei und daß solche Methoden nicht ein Zeichen von Stärke, sondern eher von Schwäche seien.

Rebiya Kadeer

„Obwohl kein Zweifel besteht, daß diese inhaftierten und überwachten Gefangenen absolut keine Beziehung zu den politischen Aktivitäten ihrer Angehörigen haben, greifen die chinesischen Kommunisten zu solch grausamen Methoden, um ihre Herrschaft zu erhalten und Stabilität zu erreichen, wenn auch nur für eine gewisse Zeit“, meinte er.

„Aber die Menschheit wird dies nicht verzeihen und kann es nicht akzeptieren, denn die Bestrafung von Angehörigen ist eine Methode, die der menschlichen Natur widerspricht.“

Nichtsdestotrotz seien sich uigurische Rechtsaktivisten der Risiken für sich selbst und ihre Angehörigen bewußt und oft mental bereit, einen solchen Preis für ihren Aktivismus zu zahlen, sagte er.
„Im Laufe der Geschichte haben wir den Preis [dieser Arbeit] vor unseren Augen gesehen und setzen dennoch unseren politischen Kampf fort“, sagte er.

„Wenn es notwendig wird - so glaube ich -,für die Freiheit und Unabhängigkeit unseres Heimatlandes den Preis unseres eigenen Lebens zu zahlen, würde kein Uigure zweimal darüber nachdenken.“